„Die Einen reisen, weil sie sich suchen, die Anderen, weil sie sich verlieren möchten“ steht in schöner Schreibschrift unter dem imposanten Bergpanorama „Fextal“ von Ilka Vogler geschrieben. Auch ohne die enge Beziehung zwischen der Hamburger Künstlerin, den Schweizer Alpen und Friedrich Nietzsche, dem Autor dieses Aphorismus, zu kennen, spürt man intuitiv die Wahlverwandtschaft zwischen Schrift und Bild. Die monumentale Bergwelt Ilka Voglers, die transzendentale Erhabenheit und Abgeschiedenheit, die hier zum Ausdruck kommt, findet sich wieder in den Gedanken des schwermütigen deutschen Philosophen. Erst in der Kombination von Schrift und Bild entfaltet das Werk seine ganze Kraft und Poesie.
Ilka Vogler kam Mitte der 90er Jahre mit ihrer Tochter erstmals in das Engadin. Eine günstige Ferienreise. Purer Zufall. Doch wie man weiß, gibt es keine Zufälle. Sie entdeckte schnell, dass Sils Maria einer jener „Kraftorte“ ist, nach denen sie suchte.
Nietzsche hatte in dem hoch gelegenen Ferienort zwischen 1881 und 1888 sieben Sommer lang sein Refugium gefunden. In Sils Maria schuf er – einsam, krank und unverstanden – einige seiner bedeutendsten Werke.
Auf Nietzsches Spuren erkundete Ilka Vogler den Ort, das herrliche, weiträumige Tal und die Berge, die es begrenzten. Kehrte Jahr um Jahr zurück, um sich zu ihrer eindrucksvollen Serie Engadiner Berglandschaften anregen zu lassen. Heute zählt diese Serie zu ihren Hauptwerken.
Ohne Reisen wären Ilka Voglers Gemälde undenkbar. Reisen ist der Motor ihrer Kunst, auch da stimmt sie mit Nietzsche überein. „Es bedurfte immer erst der Zeit, der Genesung, der Ferne, der Distanz, bis die Lust bei mir sich regte, etwas Erlebtes … abzuhäuten, auszubeuten, bloßzulegen, „darzustellen“ , schrieb er 1879.
Der Hamburger Künstlerin ergeht es nicht anders: Das Engadin, aber auch Kreta, Paris oder Kairo sind Orte, die sie immer wieder aufsucht, um Energie zu tanken. In Nietzsches Sinne begibt sie sich, fern von Alltagssorgen, auf die Suche nach sich selbst, nach dem Sinn des Lebens und dem Ursprung allen Seins. Insofern ist Ilka Vogler eine moderne Romantikerin, deren Kunst sich aus der intensiven Beschäftigung mit der Natur, fremden Kulturen und nicht zuletzt mit der Literatur speist. In ihren Gemälden tauchen immer wieder literarische Bezüge auf: Nietzsche-Zitate, aber auch Reminiszenzen an den französischen Schriftsteller Paul Eluard oder den persischen Dichter Hafez.
Als studierte Germanistin und Romanistin ist Ilka Vogler nicht nur bildende Künstlerin, sondern auch eine Sprach-Künstlerin, die das geschriebene Wort ganz selbstverständlich als Bild begreift.
Als Bildträger verwendet sie mit Vorliebe glänzende Lackfolie, wie man sie als abwaschbare Küchentischdecke kennt. Ein äußerst schwieriges Material: Die Lackfarbe verläuft leicht auf dem PVC und Korrekturen sind schwierig. Deshalb muss Ilka Vogler auf dem Fußboden arbeiten. Andererseits besitzen diese farbigen „Leinwände“ einen großen Vorteil: In ihnen ist die Grundstimmung der Bilder bereits festgelegt. Im Falle der Bergpanoramen auf blauem Grund scheinen der Silser See und das strahlende Himmelsblau immer schon vorhanden gewesen zu sein – Ilka Vogler musste sie nur noch sichtbar machen. Das gleiche gilt für den heißen Sand einer kretischen Bucht, der auf orangefarbenem Grund geradezu zu glühen scheint. Oder die „Tuileries“ an einem sonnen durchfluteten Maitag in Paris, die Ilka Vogler in leuchtendes Gelb tauchte. Neben der prägnanten Farbgebung als Grundton fällt der schnelle, sichere Strich auf, den dieses Material erfordert. Dadurch wirken die Bilder oftmals wie großformatige, „dahin geschriebene“ Skizzen. Und in der Tat: Ilka Voglers Lackfolienbilder könnte man durchaus als Weiterentwicklung ihrer Schriftbilder und suggestiven Sprachräume auffassen, mit denen die Künstlerin Mitte der 80er Jahre begann. Für das Kunsthaus Hamburg entwarf sie beispielsweise bunte, dick konturierte „Rettungsinseln“ mit Inschriften wie „Insel der Wünsche“ und „Insel der Güte“. Für den Freiraum Fleetinsel schuf sie die Fensterinstallation „Angst um mein Herz“ und für das Hamburger Museum der Arbeit die Rauminstallation „Meine Arbeit, keine Arbeit“.
Zu ihren eindrucksvollsten Werken zählt die Installation im Lübecker Burgkloster; in der sie eine vergitterte Zelle mit den Worten „Leben“ und „ Tod“ auslegte. Flächendeckend auf Fensterscheiben, Wände oder den Boden geschrieben, kommunizieren diese Sätze unmittelbar mit dem Betrachter, werfen ihn auf sich selbst zurück und fluten das Gehirn mit Gedanken und Gefühlen.
„Ob ich schreibe oder male, macht bei mir keinen Unterschied“, hat Ilka Vogler einmal gesagt. Bestes Beispiel ist ihre jüngste Rauminstallation „Where to go“ rund um die Wendeltreppe im Jungen Hotel. Wie in der arabischen Kalligraphie, mit der sich die Künstlerin intensiv befasst, wachsen hier Worte aus dem Ornament, aus der geschwungenen Linie heraus. Knospen aus den Spitzen urwaldartiger Ranken, die auch Metapher für das Dickicht des Unterbewussten, unseres Gehirn-Potentials zu sein scheinen.
In acht verschiedenen Sprachen hat Ilka Vogler den Satz „Wohin gehen“ aufgeschrieben und damit das nüchterne Treppenhaus in einen poetischen Raum der Reflexion verwandelt. Wer die Wendeltreppe hinunter geht und diese Sätze auf sich wirken lässt, stellt schnell fest, dass er hier nicht nur ins Untergeschoss gelangt, sondern auch eine Reise antritt – die Reise zu sich selbst. Denn wie sagte der Dichter Jean Paul gleich: „Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt das Leben reisen ist.“
Isabelle Hofmann, 2006